Andacht anlässlich der Coronakrise von Pfarrer Martin Benn

ATEM

© Free-Photos PixabayBewegter Himmel

„Alle Vorstellungen sind abgesagt.“ Diesen Hinweis las ich vor ein paar Tagen an einem kleinen Theater in Darmstadt. Als ich ein paar Schritte weiter ging, wurde ich mir der Doppeldeutigkeit dieser Aussage bewusst. Vieles von dem, was wir im Moment erleben, hätten wir uns noch vor wenigen Wochen nicht vorstellen können ...

Andacht anlässlich der Coronakrise von Pfarrer Martin Benn

... und über Vieles, was in nächster Zeit noch kommen wird, ist es kaum möglich, klare Vorstellungen zu entwickeln. Alle (oder zumindest viele bisherige) Vorstellungen sind abgesagt.

Ein kleines Virus lässt die ganze Welt den Atem – anhalten. Ich halte innerlich den Atem an. Wie werden die nächsten Wochen werden?

Das globalisierte Reisen ist ausgesetzt.

Ländergrenzen werden dicht gemacht.

Grenzen des Gewohnten verschieben sich.

Das Grundrecht auf Freiheit wird eingeschränkt. Wir bleiben zu Hause.

Handydatenauswertung einzelner Bürger*innen wird in Erwägung gezogen.

156 Milliarden Euro werden von der Regierung für die Wirtschaft wie selbstverständlich in Aussicht gestellt. Die heilige schwarze Null, die allen dringlichen Rufen des Bildungssystems, des Gesundheitssystems, der besseren digitalen Ausstattung des Landes standgehalten hatte, … sie fällt.

Der Bundestrainer Jogi Löw macht ein kollektives „Burn out“ der Welt aus, und bringt das Gefühl zum Ausdruck, dass die Erde sich stemmt und wehrt gegen die Menschen und ihr Tun. Und dass das eingeschlagene Tempo auch ihm manchmal den Atem geraubt hat.

Die Bundeskanzlerin spricht von der größten Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg.

Viele Selbstverständlichkeiten, Routinen, individueller wie globaler Art, sind nicht mehr möglich.

Es ist auf der anderen Seite deutlich und wie vorher kaum erlebbar, wie die ganze Welt, wie wir alle, wie alle Menschen mit einander verbunden, auf einander angewiesen sind.

Die Welt hält den Atem an. Vielleicht auch wir, wenn wir an einander vorüber gehen oder wenn wir auf uns wirken lassen, was gerade geschieht. Den Atem, der Leben bedeutet, der uns mit allen Menschen und allen anderen Lebewesen verbindet.

Der Atem des Anderen kann aber nun auch das Virus zu uns bringen, er ist der Hauptträger des Virus. Ein Virus, das hauptsächlich von Atem zu Atem springt. Covid 19 ist eine Atemwegsinfektion.

Besondere Zeiten, Krisenzeiten erfordern schnelles Handeln. Verantwortungsträger*innen z.B. in Politik, Wirtschaft und Kirche treffen Entscheidungen. Jeden Tag neu und sehr verantwortungsbewusst, wie ich es empfinde. Manchmal steht man in der Gefahr, dass einem die Luft weg bleibt, wenn deutlich wird, dass die Dinge, die gestern gerade umgesetzt worden sind, heute schon wieder geändert werden müssen. Menschen ringen nach Luft vor Angst vor Ansteckung, möglichem Tod oder aus existenzieller Sorge.

Spürbar ist aber auch kreative Solidarität. Hilfsplattformen entstehen. Securityfirmen fahren plötzlich Essen aus. Viele Menschen bleiben zu Hause und leisten damit ihren Beitrag zu Kollektivbewusstsein und Solidarität. Menschen, die mit ihrer Arbeit beispielsweise an der Supermarktkasse und im Krankenhaus die Krise stabilisieren, wird nun der Dank ausgesprochen, den sie schon lange verdienen.

Parallel dazu ist so etwas wie eine Zwangsentschleunigung oder verordnete Atempause entstanden. Einiges, was im Alltag normalerweise zu tun ist, braucht nun nicht mehr erledigt werden.

Ein anderer Aspekt der Kontaktsperre ist es, dass man fast ganz auf sich allein zurück geworfen ist. Es ist eine Zeit des Anhalten Müssens und vielleicht auch des Innehaltens entstanden. Die Coronakrise bietet so auch die Chance, sich selbst bewusster wahr zu nehmen und so vielleicht auch sich dem Eigentlichen, dem Selbst zuzuwenden.

Paulus schreibt in 1. Kor 3,16: „Weißt du nicht, dass du der Tempel Gottes bist und der Geist Gottes in dir wohnt?“ Paulus ist klar, dass wir Anteile Gottes in uns tragen, dass wir substanzhaft mit ihm verbunden sind. Es wäre ein Geschenk der Krise, bei allem was für den Einzelnen im Moment sehr schwer sein kann, wenn diese Gewissheit des Paulus auch bei uns verstärkt ins individuelle wie in das Gruppenbewusstsein gelangen könnte. Es ist Zeit, sich zu vergewissern.

Auch hierbei könnte uns der Atem hilfreich sein. Durch bewusstes Atmen in der Stille, so wie es uns christliche Meditationsformen und Achtsamkeitsmethoden lehren.

In der Stille sitzend dem Atmen folgen. Im bewussten Beobachten des Atems ihn unserem Bewusstsein den Weg zeigen lassen, zu dem Ort in uns, an dem wir Gott erahnen oder erleben (können).

Darüber hinaus kann uns in diesen Tagen der Ungewissheit zweifache Hoffnung tragen.

Zum einen, dass die Welt aus dieser Krise lernt. Z.B.: ressourcenschonender, gerechter und solidarischer zu handeln, weil im Moment unmittelbar erlebbar wird, wie sehr wir global, national und individuell mit einander verbunden sind und sowohl Coronakrise und viele Probleme in Gegenwart und der Zukunft nur gemeinsam zu einer guten Lösung geführt werden können. Die Welt wird nach dieser Virusepidemie eine andere sein.

Uns Christeninnen und Christen trägt darüber hinaus die Hoffnung, dass der Geist Gottes, der Ruach (bedeutet im Hebräischen des Alten Testamentes „Atem Gottes“ – der Leben hervorruft), das Pneuma (im Lateinischen des ursprünglichen Neuen Testamentes – die Luft, der Atem), der Atem Gottes, uns umweht, uns beisteht, uns Kraft gibt und uns immer neues Leben einhaucht.Amen

Vater Unser

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