Armutsbericht 2017

Diskussion um Armut in Deutschland – falsche Maßstäbe?

SeanShot/istockphoto.comArmutBedeutet Armut ausschließlich Obdachlosigkeit?

Die Armut in Deutschland steigt – trotz guter Wirtschaftsentwicklung. Das zeigt der paritätische Wohlfahrtsverband in seinem jährlichen Armutsbericht. Der Bericht wird aber auch kritisiert. Besonders die Maßstäbe, an denen Armut gemessen wird, sind umstritten.

Als arm gilt in Deutschland, wer mit einem Einkommen von unter 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens auskommen muss. Konkret heißt das: Die Schwelle liegt bei einem Single bei 942 Euro Einkommen im Monat, bei einem Paar mit zwei kleineren Kindern bei 1.978 Euro.

Menschen sind nicht erst arm, wenn sie verelenden

Genau diesen Maßstab kritisieren Wirtschaftswissenschaftler. Einige wollen Menschen, die über 942 Euro verfügen nicht als arm bezeichnen. Für die Wohlfahrtsverbände gilt ein Mensch allerdings nicht erst dann als arm, wenn er unter Brücken schlafen oder Pfandflaschen sammeln muss.

Teilhabesicherung als Maßstab in Deutschland

„Wenn wir von Armut sprechen, dann geht es vor allem auch um Teilhabsicherung an der Gesellschaft“, sagt Brigitte Bertelmann, die stellvertretende Leiterin des Zentrums für Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN. Mit 942 Euro könne man vielleicht eine Wohnung und Lebensmittel finanzieren, aber ganz gewiss nicht am kulturellen Leben teilhaben: zum Beispiel Schwimmbäder besuchen oder Mitgliedsbeiträge in Vereinen bezahlen. Vor diesem Hintergrund scheint ihr die Bemessungsgrundlage von 60 Prozent des mittleren Einkommens sogar noch als zu niedrig.

Den konkreten Bedarf als Bewertungsgrundlage berücksichtigen

Hilfreich wäre es, Armut nicht nur am faktischen Einkommen, sondern an der konkreten Bedarfsseite zu messen, so Bertelmann. Konkret müsse gefragt werden: Was braucht eine alleinerziehende Mutter, um ihre Kinder nicht nur zu ernähren, sondern sie auch nach der Schule auch zu fördern? Angesprochen sind damit zum Beispiel Mitgliedschaften in Sportvereinen oder Musikunterricht. Erst wenn solch eine Teilhabesicherung und damit eine Chancengleichheit der Bildung verwirklicht werde, könne Armut wirksam bekämpft werden.

Christliches und lutherisches Denken als Bezugspunkt

Der Diskussion liege auch ein immer ein Dogma zugrunde, so Bertelmann. „Grundsätzlich geht der Streit immer von einem Argument aus: Wer arbeitet, muss mehr verdienen als ein Erwerbsloser an Unterstützung erhält.“ Wenn aber Menschen in Beschäftigungsverhältnissen kaum über die Armutsgrenze kommen, sei dies kaum möglich, ohne dass Armut festgeschrieben wird. Außerdem vernachlässige diese Sicht die Leistung nicht bezahlter Formen von Arbeit - zum Beispiel die Kindererziehung, die von armen Eltern unter sehr erschwerten Bedingungen geleistet wird. Das christliche und lutherische Denken könne hier durchaus als Referenz dienen. „Menschen sollten ihre Fähigkeiten bestmöglich entwickeln können, um sie dann auch wieder für andere einzusetzen.“ Doch dafür müssten auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Mit Blick auf die Armutsbekämpfung sei da noch Luft nach oben, so Bertelmann.

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